Einleitung: Wo ist die evangelische Kirche heute?
Die evangelische Kirche wurde einst aus einer tiefen Überzeugung heraus geboren: dass das Evangelium von Jesus Christus klar, kraftvoll und unmissverständlich in der Heiligen Schrift offenbart ist. „Sola Scriptura“ – die Schrift allein – war kein theologisches Schlagwort, sondern der rettende Anker gegen den Sturm der menschlichen Traditionen. Heute aber, 500 Jahre nach Luther, scheint sich ein tragischer Wandel vollzogen zu haben: Die einst so klare Stimme der Reformation wird immer leiser, übertönt von theologischen Nebengeräuschen, kultureller Anpassung und einer verwirrenden Mischung von Irrlehren.
Die Rückkehr nach Rom – still und schleichend
Ein erstaunliches Phänomen ist die wachsende Nähe vieler protestantischer Kirchen zur römisch-katholischen Lehre – sei es bewusst oder unterbewusst. Dies geschieht nicht notwendigerweise in Form einer sichtbaren Rückkehr, sondern durch das stillschweigende Übernehmen theologischer Konzepte, die von der Reformation klar zurückgewiesen wurden.
Ein Beispiel ist der Glaube an eine unsterbliche Seele. Während Luther betonte, dass allein Gott Leben gibt und der Mensch ohne ihn dem Tod verfallen ist (vgl. 1. Timotheus 6,16; Prediger 9,5), übernehmen viele heutige evangelische Predigten das katholisch-griechische Seelenverständnis: Die Seele sei ewig bewusst lebendig, selbst unabhängig von der Auferstehung. Das aber war nie reformatorisch. Luther schrieb selbst, dass der Mensch im Tod „schläft“ bis zur Auferstehung – eine Lehre, die heute kaum noch verkündet wird.
Ein neues Babylon: Der Siegeszug des Dispensationalismus
Während die Volkskirchen theologisch verwässert wurden, kam in evangelikalen und freikirchlichen Kreisen eine andere Strömung auf: der Dispensationalismus. Diese Lehre – populär gemacht durch Darby, Scofield und später durch Bestseller wie Left Behind – unterteilt die Bibel in Zeitabschnitte (Dispensationen), in denen Gott angeblich jeweils anders mit der Menschheit handelt.
Diese Lehre hat zwei große Probleme:
- Sie findet in der Reformation keinen Rückhalt. Luther, Calvin, Zwingli – keiner lehrte oder kannte ein solches Schema.
- Sie lenkt vom Kreuz und der Gegenwart Christi ab und ersetzt sie durch einen Kalender der Angst, Spekulation und Endzeitpanik.
Dispensationalismus stellt sich als bibeltreu dar, doch er verkompliziert das Evangelium, reduziert Jesus auf einen zukünftigen politischen König und degradiert seine erste Ankunft zum „Plan B“.
Der Verlust der Schrift – oder: Wenn alles gleich wahr ist
Ein weiteres Symptom der geistlichen Krise ist der Verlust eines klaren Verständnisses von biblischer Autorität. In vielen Gemeinden gilt: Jeder interpretiert „seinen Jesus“, jeder legt die Bibel auf seine Weise aus – liberal oder ultrabuchstäblich, historisch-kritisch oder endzeitfokussiert. Was fehlt, ist der Geist der Reformation: Demut unter das Wort Gottes – nicht über das Wort.
Die Bibel wird heute entweder:
- entmythologisiert (in liberalen Kreisen) – da bleibt vom Wunder nur das Gleichnis,
- oder extrem buchstäblich missverstanden (z. B. Offenbarung als Zeitungsschlagzeile),
- oder nur selektiv zitiert, passend zur eigenen Agenda.
So entsteht ein theologisches Babylon, in dem Wahrheit und Lüge nicht mehr unterschieden werden können – und viele verlieren den Glauben, nicht weil Gott nicht spricht, sondern weil zu viele Stimmen durcheinanderschreien.
Was bleibt vom Geist der Reformation?
Die ernüchternde Antwort: immer weniger. Die lutherischen Kirchen nennen sich noch nach dem Reformator, haben aber oft seine zentralen Überzeugungen preisgegeben. Das ist mehr als nur eine theologische Krise – es ist ein geistlicher Abfall. Wo früher Christus allein gepredigt wurde, treten heute Fragen nach Gender, Klima, Diversität oder soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. All das mag gesellschaftlich relevant sein – doch ohne Kreuz, Auferstehung und Wiederkunft verliert die Kirche ihre Daseinsberechtigung.
Und genau hier öffnet sich die Tür zur Ökumene mit Rom: Eine Kirche, die keinen klaren Christus mehr predigt, ist offen für einen allgemeinen, religiösen Konsens – einen „Einheitsglauben“, der alle vereint, aber niemanden mehr rettet.
Zurück zur Quelle: Der Ruf nach echter Reformation
Was wäre die Alternative? Keine neue Bewegung, kein neuer Reformer – sondern eine Rückkehr zu den einfachen Wahrheiten der Bibel. Eine Reformation im Geist Jesu, im Licht des Wortes, durch den Heiligen Geist. Eine Kirche, die wieder weiß:
- dass der Mensch nicht von sich aus unsterblich ist, sondern auf Gottes Auferstehungshandeln angewiesen,
- dass das Evangelium keine Endzeitangst predigt, sondern die rettende Gnade Gottes,
- dass Jesus kein nationalistischer Endzeitheld ist, sondern der gekreuzigte und auferstandene Erlöser,
- dass das Wort Gottes nicht verwässert, sondern neu entdeckt werden muss.
Fazit: Die Wahl steht – Babylon oder Bibel?
Die Lage ist ernst – aber nicht hoffnungslos. Die Bibel kennt keinen Automatismus, dass die „Kirche immer richtig liegt“. Im Gegenteil: Immer wieder war Umkehr nötig – vom goldenen Kalb zurück zum lebendigen Gott. Heute stehen viele Christen, bewusst oder unbewusst, vor derselben Wahl: Folgen wir dem Lärm verwirrter Lehren – oder dem stillen, klaren Ruf des wahren Hirten?
Die Reformation ist kein historisches Ereignis – sie ist eine tägliche Entscheidung. Und sie beginnt im Herzen des Einzelnen.